Zeichnung, Diatom I, Kieselalge

Bereits vor einiger Zeit hat mir Frau Dr. Susanne Schieble, seit vielen Jahren Präsidentin der deutsch-japanischen Gesellschaft in Hannover, ein ganz wundervolles Feedback zu meiner Kunst gegeben. Die unten aufgeführte Rezension meiner Arbeit habe ich hier aktuell noch einmal in den Blog aufgenommen, denn ich möchte gern, dass sie nicht in Vergessenheit gerät. Viel Spaß beim Lesen!

 

„Nichts ist so beständig wie der Wandel“. (Heraklit)

Die Ästhetik des Wandels der bildenden Künstlerin Stephanie Hüllmann

Elegant, feinfühlig, sensibel, ästhetisch – das sind Attribute, die für die Kunstwerke von Stephanie Hüllmann passend sind. Sie beschreiben viel und dennoch nicht annährend das, was die Kunstwerke so eindrucksvoll macht.
Die Assemblagen zeugen von Natur- und Erdverbundenheit und fügen in Harmonie Details von Industrie- oder Naturprodukten so zueinander, dass ein eigenständiges Kunstwerk entsteht.
Aber diese Analysen sind viel zu nüchtern. Was macht die Kunst von Stephanie Hüllmann so faszinierend?
In unzähliger Kleinarbeit fügt die Künstlerin Detail um Detail zu einer Assemblage zusammen. Dieses feine und feingliedrige Arbeiten zeugt von Geduld und Dauer: Das Verstreichen der Zeit wird bewusst in Kauf genommen, ja, fließt in das Kunstwerk ein. Zeit wird sichtbar.

Zeitzeugen des Weggeworfenen

„Das Unsichtbare sichtbar machen“, so sagte einst Paul Klee, das sei die Aufgabe von Kunst. Dazu passt die Verwendung von abgenutzten und weggeworfenen Materialien, die die Zeit als äußeres Zeichen mit sich tragen. Sie offenbaren eine schlichte Schönheit, die das japanische Ästhetik-Konzept des Wabi-Sabi transportieren. Es scheint, als ob die Künstlerin, die lange in Japan lebte, dieses Konzept verinnerlicht hat und nun in und mit ihren Kunstwerken zum Ausdruck bringt.
Die Zeitzeugen des Weggeworfenen, ob von den Menschen oder der Natur als Abfallprodukte, verweisen auf die Sorglosigkeit der Menschen, auf den Wandel der Jahreszeiten in der Natur oder das Fortschreiten der Zeit. Ob weggeworfene Teile einer Werft am Ufer der Elbe oder leere Schneckenhäuser: der Wandel wird sichtbar, tastbar.
Gerade die Sichtbarmachung des Wandels der Jahreszeiten verweist wieder auf einen japanisch geprägten Subtext und eine japanische Ästhetik. Wohl in keiner anderen Kultur ist das Leben in, mit und durch die Jahreszeiten so feinsinnig spürbar wie in Japan.
Die Natur- und Industrieprodukte werden vom Abfallprodukt zum Gegenstand von Kunst, indem sie in einen neuen Kontext gestellt werden. Sie erhalten dadurch einen neuen Wert, einen Wert an sich sowie als Kunstgegenstand, als Teil eines Kunstwerks, als Zeitzeugen des Wandels. Dadurch entwickelt sich eine eigene, neue Ästhetik, eine Ästhetik des Wandels.
Es ist aber auch eine mahnende Ästhetik. Indem z.B. Blätter verwendet werden, die die Schrotschusskrankheit haben, wird auf den Klimawandel und die Umweltverschmutzung aufmerksam gemacht. Diese kranken Blätter werden als Kunstgegenstand in einen neuen Kontext gestellt und so Teil des Gesamtkunstwerks einer Assemblage. Auch die vielen, in zeitaufwendiger Kleinarbeit aufgenähten Reiskörner fallen in diesen Kontext. Wie kann man eindringlicher auf die Nahrungsmittelknappheit und auf Monokulturen aufmerksam machen als mit dem Aufnähen von Reiskorn für Reiskorn? Ist dies nicht auch eine Monokultur, die aber mit eindringlicher Schönheit auf die Probleme unserer und zukünftiger Generationen hinweist, und dies mit einem für die Weltbevölkerung essentiellen Nahrungsmittel?

Mahnen ohne erhobenen Zeigefinger

Kunst, so wird hier deutlich, übt Kritik mit den Mitteln der Kunst:
„Was wir heute tun, entscheidet darüber, wie die Welt morgen aussieht,“ so mahnt Marie von Ebner-Eschenbach.
Die Assemblagen sind perfekte Transporteure dieser Kritik und erinnern wiederum an eine Ästhetik, die in der japanischen Kultur ihre Wurzeln hat. Indem die abgenutzten Gegenstände oder die Abfallprodukte der Natur zu Assemblagen zusammengefügt werden, entstehen zwischen den einzelnen Objekten Lücken.
Die Leere, so der französische Semiologe Roland Barthes, ist eine produktive Leere, satori genannt. Er bezieht diese Leere auf das japanische Haiku, das bewusst eine Leere zwischen den einzelnen Wörtern lässt. Dies entspricht der japanischen Sprache, die den einzelnen Wörtern ein großes Gewicht beimisst. Die Wörter sind eher lose-assoziativ als grammatikalisch korrekt miteinander verbunden. Dem Assoziativen wird somit ein viel größerer Raum gelassen: die Leere. Diese Leere lässt auch Stephanie Hüllmann entstehen, ja, sie macht damit uns, den Betrachter*innen, ein Angebot. In dieser Leere kann ich als Betrachterin der Künstlerin im Moment der Betrachtung begegnen und mit ihr zusammen das Werk konstituieren. Dies entspricht der Begegnung zwischen haijin (dem Haikudichter / der Haikudichterin) und dem Leser/Hörer des Gedichts. Dieses stark an der japanischen Sprache und Ästhetik angelegte Verfahren spiegelt sich in und mit dem Werk von Stephanie Hüllmann wider.
Das Werk der Künstlerin Stephanie Hüllmann zeigt nachdrücklich, das Kunst mahnen kann, ohne den mahnenden Zeigefinger zu heben. Sie kann von ästhetischer Durchlässigkeit und Leichtigkeit sein, wie eine zarte Tuschmalerei oder ein Haiku und doch von eindringlicher Nachdrücklichkeit. Indem die Künstlerin die Zeit in das Kunstwerk bringt, wird sichtbar: Uns läuft die Zeit davon.
Dr. Susanne Schieble
Literaturwissenschaftlerin, Dozentin, Autorin und Präsidentin der Deutsch-Japanischen Gesellschaft Hannover Chado-Kai e.V.

Juli 2021